Lutherbibel online lesen
Lutherbibel
Klage und Trost eines Leidenden
1 Ich bin der Mann, der Elend sehen muss durch die Rute seines Grimmes.
2 Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht.
3 Er hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag.
4 Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen.
5 Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben.
6 Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind.
7 Er hat mich ummauert, dass ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt.
8 Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet.
9 Er hat meinen Weg vermauert mit Quadern und meinen Pfad zum Irrweg gemacht.
10 Er hat auf mich gelauert wie ein Bär, wie ein Löwe im Verborgenen.
11 Er lässt mich den Weg verfehlen, er hat mich zerfleischt und zunichtegemacht.
12 Er hat seinen Bogen gespannt und mich dem Pfeil zum Ziel gegeben.
13 Er hat mir seine Pfeile in die Nieren geschossen.
14 Ich bin ein Hohn für mein ganzes Volk und täglich ihr Spottlied.
15 Er hat mich mit Bitterkeit gesättigt und mit Wermut getränkt.
16 Er hat mich auf Kiesel beißen lassen, er drückte mich nieder in die Asche.
17 Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen.
18 Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den Herrn sind dahin.
19 Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin!
20 Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir’s.
21 Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch:
22 Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
24 Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
25 Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.
27 Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage.
28 Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt,
29 und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung.
30 Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun.
31 Denn der Herr verstößt nicht ewig;
32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
33 Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen.
34 Wenn man alle Gefangenen auf Erden unter die Füße tritt
35 und eines Mannes Recht vor dem Allerhöchsten beugt
36 und eines Menschen Sache verdreht, – sollte das der Herr nicht sehen?
37 Wer darf denn sagen, dass solches geschieht ohne des Herrn Befehl
38 und dass nicht Böses und Gutes kommt aus dem Munde des Allerhöchsten?
39 Was murren denn die Leute im Leben, ein jeder über die Folgen seiner Sünde?
40 Lasst uns erforschen und prüfen unsern Wandel und uns zum Herrn bekehren!
41 Lasst uns unser Herz samt den Händen aufheben zu Gott im Himmel!
42 Wir, wir haben gesündigt und sind ungehorsam gewesen, darum hast du nicht vergeben.
43 Du hast dich in Zorn gehüllt und uns verfolgt und ohne Erbarmen getötet.
44 Du hast dich mit einer Wolke verdeckt, dass kein Gebet hindurchkonnte.
45 Du hast uns zu Kehricht und Unrat gemacht unter den Völkern.
46 Alle unsere Feinde reißen ihr Maul auf über uns.
47 Wir werden gedrückt und geplagt mit Schrecken und Angst.
48 Wasserbäche rinnen aus meinen Augen über den Jammer der Tochter meines Volks.
49 Meine Augen fließen und können’s nicht lassen, und es ist kein Aufhören da,
50 bis der Herr vom Himmel herabschaut und darein sieht.
51 Mein Auge macht mir Schmerzen wegen all der Töchter meiner Stadt.
52 Meine Feinde haben mich ohne Grund gejagt wie einen Vogel.
53 Sie haben mein Leben in der Grube zunichtegemacht und Steine auf mich geworfen.
54 Wasser hat mein Haupt überschwemmt; da sprach ich: Nun bin ich verloren.
55 Ich rief aber deinen Namen an, Herr, unten aus der Grube,
56 und du erhörtest meine Stimme: »Verbirg deine Ohren nicht vor meinem Seufzen und Schreien!«
57 Du nahtest dich zu mir, als ich dich anrief, und sprachst: Fürchte dich nicht!
58 Du führst, Herr, meine Sache und erlöst mein Leben.
59 Du siehst, Herr, wie mir Unrecht geschieht; hilf mir zu meinem Recht!
60 Du siehst, wie sie Rache üben wollen, und kennst alle ihre Gedanken gegen mich.
61 Herr, du hörst ihr Schmähen und alle ihre Anschläge gegen mich,
62 die Reden meiner Widersacher und ihr Geschwätz über mich den ganzen Tag.
63 Sieh doch: Ob sie sitzen oder aufstehen, singen sie über mich Spottlieder.
64 Vergilt ihnen, Herr, wie sie verdient haben!
65 Lass ihnen das Herz verstockt werden, lass sie deinen Fluch fühlen!
66 Verfolge sie mit Grimm und vertilge sie unter dem Himmel des Herrn.
Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart